NEGOTIATING WITH DEATH
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Ein Sommer nach dem Krieg (etwa 1994)

8/17/2020

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Ein Sommer nach dem Krieg
 
Ich lege meine Hand auf die Handfläche im Spiegel, deine Finger waren schmal und lang, Jungenhände, muskulös und warm, man konnte sehen, dass sie immer warm wären, nie feucht, wie gemacht zum Zigaretten drehen, mit den Fingern schnippen, an einem Ast hängen, einen Takt auf den Tisch klopfen- warm und braun sogar im Winter, glatt und jungenhaft gedankenlos, mit kleinen hellen Narben, sichere Hände, die Hände eines Jungen, der freihändig mit dem Fahrrad nachhause gefahren ist und nun in der Haustür steht, in der Sonne, ein Marmeladenbrot in der Hand, ein makelloser Junge, ein ECHTER Junge.
Dein Haar sieht fremd aus mit meinem Gesicht darunter, es scheint alles Licht auf sich zu ziehen und im Raum zu schweben, meine Haut sieht blass aus, die Augen wirken dunkler. Für einen Moment halte ich es nicht aus, ich stürze zusammen, falle ein nach innen, so schnell, so alles mit sich reißend, dass ich nicht einmal dazu komme, die Fäuste zu ballen.
Ich habe die Vorhänge zugezogen und durch den dicken Stoff dringt nur wenig Mittagslicht, in dem das Zimmer grünlich glimmt, wie Schimmel. Ich ziehe die Hand zurück und lehne mich an die Wand, schließe die Augen. Die Luft summt, die Wand ist kalt, und dicht an meinem Gesicht ist der Geruch eines Zimmers, das nie geheizt wird.
Ich spüre die Kälte wie Wasser auf der Haut bei Fieber und mein Magen zieht sich zusammen. An meinem nackten Rücken und unter den Handflächen kann ich den rauen Putz unter der dünnen Tapete fühlen.
Wenn ich die Augen halb öffne, werde ich aus den Augenwinkeln im Halbdunkel des Spiegels ein blondes Mädchen sehen können, die Haare vor das Gesicht gezogen, ein heller Unterrock, du.
 
 
 
 
Ich habe mir einen Haufen schmutziger Wäsche unter die Brust geschoben und liege auf dem Boden, auf den kratzigen Teppichfliesen, die so dünn und verschlissen sind, dass ich genauso gut auf Beton liegen könnte. An meinen Fingern hängt der Geruch von Tabak und Schweiß, mein ganzer Körper ist schmutzig und stinkt, wenn ich meine Kopfhaut kratze, bleiben Dreckränder unter den Nägeln zurück.
Das Zimmer stinkt auch, ich habe seit Tagen nicht gelüftet, es ist dämmrig, die Vorhänge sind zugezogen, Kleider liegen in schmutzigen, klammen Haufen herum , volle Aschenbecher, es riecht nach Keller, nach feuchter Erde, meine Füße sind eisig, meine Schenkel und Kniekehlen klebrig.
 
Ich muss aufstehen, ich muss Holz holen und den Badeofen anheizen, ich muss aufstehen und einen Rock und eine Bluse von einem der Haufen nehmen und sie anziehen.
 
 
 
 
Der Weg ist ganz zugewachsen, Äste mit braungesprenkelten Blättern hängen von beiden Seiten herunter, bis zu den Knien wachsen Gras und Brennnesseln, wilde Blumen und Hagebuttensträucher. Zum Fluss hin verschwinden die höheren Bäume und man steht bis zum Bauch in riesigen Blättern wilden Rhabarbers, auf denen noch der Regen liegt, Dunst steigt auf, überall ist Feuchtigkeit, man kann das Wasser schon hören, die Blätter streifen die nackten Arme und Beine und dann liegt das Boot hinter der Biegung, wo der Pfad in einem breiten Stück festgetretener Erde endet, und das Mädchen auf dem Dach des Bootes.
Staubige Fußsohlen, zerkratzte Knöchel, unter denen Schlamm in einem bröckligen Rand getrocknet ist, ein Frotteeschlüpfer, ein Muskel zuckt an der Leiste, wo die Adern bläulich durch die Haut scheinen, heller Flaum auf den Armen, die gerade neben dem Körper liegen, das Haar zum Trocknen auf der Teerpappe ausgebreitet.
Das Mädchen bist du.
 
 
Im Flur stehe ich vor der Haustür, durch das kleine Fenster an der Seite fällt eine Lichtpfütze auf die Dielen, ich stelle einen Fuß hinein. Hinter der Tür, nur Zentimeter entfernt von da, wo ich stehe, ist mein Vater, er redet mit einem der anderen Männer aus der Werkstatt, in den Momenten, wo keiner etwas sagt, kann ich hören, wie er mit dem Fuß den Sand auf den Holzstufen hin und her schiebt und die kleinen Steine, die dabei gegen die Tür fallen.
Ich versuche mich zu konzentrieren, die Energie für den Impuls zu sammeln, mich umzudrehen und wegzugehen, und schließlich gelingt es und ich gehe durch die Hintertür nach draußen. Hinter dem Haus ist der Schuppen, von Blättern und Büschen zugewachsen, hier ist es kühl, alles ist dunkles Grün und schwarze nasse Schatten, auch das Holz des Schuppens ist dunkel und feucht, als ich die Stirn daran lehne.
Ich bleibe solange dort stehen, bis die Feierabendgeräusche der Männer aufhören, dann gehe ich um das Haus herum und nehme etwas von dem Holz, das an der Wand in der Sonne aufgestapelt liegt. Der Platz vor dem Haus und der Werkstatt daneben ist leer und staubig in der Hitze, keine Schatten. Nur in wenigen der Pfützen steht noch Wasser, von den anderen sind nur lehmige Vertiefungen mit Rändern aus Kies geblieben. Der Platz sieht riesig aus, vorn die Straße und auf der rechten Seite die anderen Fabrikgebäude scheinen sehr weit entfernt zu sein.
 
Ich vergrabe meine Zehen in den warmen Staub und halte mein Gesicht in die Sonne, in die Stille, die wie ein Ton ist, der am Körper vibriert. Ich setze einen Fuß vor den anderen, als würde ich auf einem Geländer balancieren, langsam, Sand quillt bei jedem Schritt zwischen meinen Zehen hoch, ich zähle mit, ich bin schon bei über fünfzig und die Straße scheint nicht näher gekommen zu sein, mein Vater ruft was mit dem Badewasser ist, ”Ich komme” rufe ich, obwohl ich nicht glaube, dass ich mich jetzt umdrehen kann.
 
 
 
 
Du. Du wirst in einer nur aus den Augenwinkeln wahrgenommenen Spiegelung im Fenster eines vorbeifahrenden Busses sein, du wirst da sein, wenn ich auf dem Bauch in der Sonne liege, das Haar über Augen und Armen, zwischen den Lichtreflexen auf der Oberfläche des Flusses, in der flüchtigen Verwirrung in den Augen der Männer.
 
 
Ich reiße die Augen auf, sie sind verklebt und brechen auf wie eine schorfige Wunde, einmal, zweimal, und stelle die Füße auf den Boden. Ich habe einen öligen Schweißfilm auf dem Gesicht und einen Speichelfleck auf der Matratze hinterlassen, meine Beine sind heiß und verkrampft.
In der Küche wasche ich mein Gesicht und die Achseln, ohne den BH auszuziehen. Es ist immer noch heiß, als ich aus der Tür trete, meine Mutter sitzt auf der Bank vor dem Haus. Ich gehe über den Sandplatz und klettere die Böschung zur Straße hinauf.
 
 
Ich stehe im Dunkeln auf der Straße und sehe zum Tanzhaus hinauf, auf der Terrasse stehen Bänke und Tische mit Windlichtern und darüber sind Papierlampions an Wäscheleinen aufgehängt, durch die Fenster dahinter fällt orangenes Licht.
Die Jungen sitzen neben den Mädchen auf den Bänken und halten sie and den Händen und einige von ihnen denken an dich. Ein paar von den Männern sind da, drinnen and der Theke sitzen sie und rauchen und trinken und reden, hinter ihnen wird getanzt.
Er steht neben der offenen Tür an die Hauswand gelehnt, er redet mit einem der Jungen aus der Werkstatt und lacht, sein Haar fällt ihm in die Stirn. Er zieht an seiner Zigarette und lässt den Blick über die Terrasse zur Straße wandern, dann sieht er mich und ruft mich und ich gehe zu ihm.
Sie haben die Ärmel ihrer vom Tanzen verschwitzten Hemden bis über die Ellenbogen aufgekrempelt, sie sind ein bisschen betrunken und ich kann die Wärme ihrer Körper spüren, sie reden und lachen und ich habe das Gefühl, als würde sich alles weit über meinem Kopf abspielen, als sähe ich wie ein Kind nach oben zu ihren Gesichtern auf, wie ein Kind, unsichtbar.
 
 
Als er mit mir tanzt, sehe ich den fremden Jungen an der Tür zu den Toilettenräumen, einige von den Mädchen stehen dort und beobachten die Tänzer, erhitzt in ihren selbstgenähten Partykleidern. Er lächelt über sie hinweg und will weiter an ihnen vorbei nach draußen gehen. Eine von ihnen rutscht vor den Türspalt, es ist nur eine kurze Bewegung, es ist eng dort, und legt ihm die Arme um den Hals und küsst ihn auf den Mund. Dann tritt sie einen Schritt zurück, sieht ihn von unten an, lächelt vage mit feuchtglänzendem Speichel auf den Lippen, die Hände weiter auf seinen Schultern. Er sagt etwas zu ihr, sie lächelt wieder unbestimmt in den Toilettenraum hinter ihm. Zwei der Männer schieben
Sich an ihnen vorbei und so werden sie getrennt und der fremde Junge geht über die Tanzfläche zur Theke.
 
 
 
 
Danach bringt er mich nachhause, es ist ein weiter Weg und er redet nicht viel, er ist erschöpft und von der Nacht erregt zugleich. Vor dem Haus küsst er mein Gesicht und meinen Hals, seine Hände liegen schwer auf meiner Brust und meinem Rücken, ich halte den Atem an.
Ich sehe ihm nach, wie er den Platz überquert, noch einmal zurückschaut und winkt und als ich mich umdrehe, steht der fremde Junge bei den Bäumen vor dem Weg zum Fluss. Er sieht mich an und geht dann in den Wald hinein, wird von den Schatten verschluckt.
Bevor ich in mein Zimmer gehe, stelle ich mich vor den Spiegel, der bei der Spüle in der Küche steht, ich beuge mich hinunter, ich erwarte mein Gesicht zu sehen, wie ein bleicher Mond geheimnisvoll schimmernd, von diesem fremdartigen betrunkenen Zauber, mit großen, dunkel umschatteten Augen, aber zwischen von Feuchtigkeit waren Haarsträhnen befindet sich ein Loch. Als hielte jemand eine Perücke über einer Faust.
 
 
 
Ich denke an dich, wie du mit offenen Augen daliegst, ohne dir bewusst zu sein, dass du wach bist, und wie es deinen Körper nach hinten reißt, wenn du begreifst. Wie der Schmerz deinen Mund mit Speichel füllt, an dem du dich verschluckst, als du gurgelnd nach Luft schnappst, dein krampfhaftes Schlucken, um nicht husten zu müssen, die Tränen treten dir in die Augen und durch sie hindurch erkennst du sein Gesicht. Wie sein Mund offen steht und der Speichel, der sich in den Mundwinkeln gesammelt hat, sein heißer, schaler Atem.
Dass du die Arme noch tagelang nicht ohne Schmerzen bewegen können wirst, und wie es noch schlimmer ist mit zurückgebogenem Kopf und du also dein Gesicht an seinen Hals und seine eingespeichelte Wange schmiegst, wie du versuchst, flach zu atmen, wie du heulst vor Wut.
 
Ich spüre deine heißen giftigen Tränen in mir, wütend, hemmungslos, und fühle einen wilden Stolz.
 
Ich sah euch, es war Nacht und der Fluss ein schwarzes Band, funkelnd im Mondlicht, er stand zwischen den Büschen am Ufer und sah dich an, wie du reglos auf dem Boot standst gegen einen wilden Himmel ohne Sterne, während unaufhörlich der Wind durch das Gras und die Blätter strich. Ich fühlte seinen Puls im Gaumen pochen. Es war, als würde sein Inneres nach unten sinken, nach unten gezogen werden, ganz leicht und flüssig und ein Druck entstand, der leere Raum war noch mit der Erinnerung an das gefüllt, was eben noch an seiner Stelle gewesen war.
Er fühlte sich hohl und als ob Finger die Wände dieses Hohlraums abtasteten, durch das Vakuum führen, auf der Suche nach etwas, erst langsam und zuversichtlich, dann immer schneller und beunruhigter.
 
Sie steht ganz still, ihr Haar, ihr Körper ist wie stumpfes Silber in diesem Licht. Schweiß rinnt an seinen Rippen entlang bis zum Gürtel, lange steht er da, bis er zum Boot geht, zu ihr geht und seine Hände auf ihre kalten Schultern legt. Er streichelt mit den Fingerspitzen ihre Arme, mit seiner Zunge ihre Schultern, ihren Hals, er zittert wie im Krampf, sein Mund an ihrem Ohr, seine Stimme ist wie ein Hauch, wie etwas, das man in einem langen dunklen Gang hören würde, wie Wind, und die Worte haben keine Bedeutung.
 
 
 
Nach seiner Flucht steht er im Schatten vor dem Haus, der Himmel ist jetzt dunkler, ich sehe aus dem Fenster auf ihn hinunter.
Als ich neben ihn trete, wirft er seinen Körper gegen meinen und lässt sich an mir herunterstürzen, auch sein Weinen ist ein Krampf, der sich in meinen Körper fortpflanzt, ohne Worte, ohne Laut.
Ich kann durch ein Loch in den Wolken in den Himmel sehen, hinter denen irgendwo der Mond verborgen ist, der ihre ausgerissenen Ränder hell macht. Die Wolken verdichten sich um das Stück Himmel, schieben sich zusammen, aber es scheint, als würde sich das Bild nicht verändern, sondern im Ganzen in die Dunkelheit dahinter gesogen werden, immer schneller. Mir ist schwindlig und leicht, als würde ich mitgezogen, in der Mitte meines Körper, in die Nacht.
 
 
 
 
Ich kann alles vor mir sehen, die Böschung zur Straße, den Sandplatz, das Haus, die Bäume dahinter, die Lagerhäuser und Fabrikgebäude, die Wand des Lagerschuppens und den Schatten, den er wirft, das Sprossenfenster mit dem abblätternden Lack und das blasse Holz darunter, die schmutzigen Scheiben, der seitliche Blick durch das staubige Glas, wenn man sich in dem Schatten gegen die Wand pressen würde, das Halbdunkel dahinter, der Boden aus Holz mit Sand darüber; wieder die Straße und an der Seite die langen flachen Baracken aus hellem Beton  mit kleinen dunklen Fenstern, der Hof dahinter, das Gras, das aus den Bodenspalten wächst, die Bänke vor den Baracken und die Frauen, die darauf in der Sonne sitzen und warten.
Ich kann alles sehen und auch der Geruch von Sägespänen und Staub und feuchtem Holz ist da und diese Stille wie vor einem Gewitter, besonders die Stille.
Ich kann alles vor mir sehen, weil es wirklich da ist. Ich könnte nicht genau sagen, was nicht wirklich da ist.
Ich kann sehen, wie du auf dem Bootsdach liegst, in deinem Haar und auf deinem Körper ist noch der nasse Sand, und das Mädchen, das ich bin, kniet neben dir und berührt das Blut aus deinem Mund. Aber das ist natürlich nicht wahr.
Die Stille liegt über allem, ich sage, der Fluss rauscht, die Musik dringt aus dem Tanzhaus, ich lausche den Stimmen der Männer, die Feierabend machen und nachhause gehen, aber hören kann ich es nicht.
Die Menschen sind unbestimmt, ihre Gesichter sind nur Gesichter, wie die von Fremden, ich sehe sein dunkles Haar, aber auch das Haar des fremden Jungen ist dunkel, und ihre Gesichter sind wie Bilder von Gesichtern, wie Modelle, um zu zeigen, was zu einem Gesicht gehört, für jemanden, der noch nie ein Gesicht gesehen hat, der nicht weiß, was ein Gesicht ist, sie haben Gesichter von Jungen und dein Gesicht ist ein Mädchengesicht.
Die Frauen warten, wie ich.
 
Blaue Akelei, gelb ist Hahnentritt, Schlüsselblumen, Fingerhut, einmal kam ein Mann aus ihrem Boot, und einmal zwei Soldaten, ich hab es selbst gesehen, Himmelsschlüssel, Löwenzahn, ich renne durch die Wiesen, Buschwindrosen, Margeriten, Tränendes Herz.


​Die Männer sitzen auf den gestapelten Baumstämmen vor dem Sägewerk, sie haben Mittagspause, ein paar von den Männern aus der Werkstatt sind herübergekommen, auch mein Vater, ich bringe ihm das Essen.
Einige der Mädchen sind auch da, in ihren Kittelkleidern für jeden Tag mit schmalen runden Krägen und aufgesetzten Taschen am Rock, sie bringen Suppe in Blechbehältern, sie lächeln, einige der Männer lächeln zurück. Ihre ausgebleichten Arbeitsjacken sind voller Holzstaub, auch ihre Stiefel, manche tragen Mützen, ihre Hände sind Schwarz von Schmutz und Schmiere, sie rauchen selbstgedrehte Zigaretten und werfen die Kippen in eine Regentonne, weil so viel trockenes Holz und Sägespäne herumliegen.
Danach gehe ich mit den Mädchen zum Dorf, es ist heiß und Schweiß läuft an meinen Beinen herunter, meine Bluse klebt am Rücken, Staub liegt wie ein Gewicht auf Gesicht und Armen, die Riemen meiner Einkaufstasche sind nass und unbiegsam.
Als wir an den Baracken vorbeigehen, die so hell und ohne Schatten in der Sonne stehen, dass ich die Augen zusammenkneife, hören die Mädchen auf zu reden. Die Frauen sitzen auf den Bänken in der Hitze und lehnen ihre Köpfe and die Wand, manche haben ihre Schuhe ausgezogen und die Beine angezogen auf den Bänken, einige krümmen ihre nackten Zehen im trockenen gelben Gras, sie rauchen die Filterzigaretten der Soldaten. Auch auf ihren Gesichtern liegt Schweiß und ihre Lippen und ihre Haut werden salzig schmecken, später, wenn die Männer nach der Arbeit stehen bleiben und mit ihnen in die Baracken gehen, die ich mir kühl und dämmrig vorstelle, mit schmucklosen Wänden und gestreiften Matratzen auf schmalen Eisenbetten.
Im Hof sind Wäscheleinen zwischen rostigen Metallpfosten gespannt, ein Stück weiter kommen die Steingebäude, in denen früher die Munitionsfabrik war, mit hohen Fenstern mit Scheiben aus Milchglas und dann die Kaserne mit den fremden Soldaten, einige sitzen im Hof und rauchen, sie sehen aus wie die Männer, sie winken und die Mädchen winken zurück.
 
 
 
Ich werde durch den Wald zurückgehen, ich werde die Schuhe ausziehen und über die kühlen trockenen Fichtennadeln laufen, braun und unter den Fußsohlen knisternd, durch die Muster aus Licht, die durch die Blätter auf den Boden fallen.
Von einigen Bäumen löst sich die Rinde und darunter sind die Spuren von Käfern wie eine Runenschrift, eine Geschichte, die man mit den Fingern erfühlen muss, sie wiederholen sich auf der Innenseite der Rinde wie die Gussform für ein Relief. Ich knie mich hin und fahre mit den Händen über die langen Büschel Waldgras, das weich und fein ist, ohne scharfe Kanten, runde Halme, glänzend wie glattes sauberes Haar.
Hinter der Anhöhe ist eine Lichtung, der tote Wald. Eine Ansammlung von rindenlosen ausgebleichten Stämmen ohne Zweige, wie Kreuze auf einem Soldatenfriedhof. Zwei der Stämme sind hoch oben wo man sie nicht erreichen kann mit einer Metallstange verbunden, man hat sie vielleicht angebracht, um sie zu stützen, als die Bäume noch nicht tot waren, aber ich denke an dies als den Ort, an dem man die Verräter erschossen hat.
Ich bin hinter dir, du rennst den Berg hinunter, Steine und totes Holz schneiden mir in die Füße, die Dornen der Sträucher reißen meine Wangen und Arme auf, aus ,meinem Zopf haben sich Strähnen gelöst und kleben in meinem Gesicht, dein Haar sieht dunkler aus und schwer vom Schweiß, deine Haut ist feucht und rot. Du läufst in den Fluss, oben, wo er nicht tief ist und klar über flache Steine fließt, die in einem gelben Braun leuchten wie frisches Harz.
Der Saum deines Kleides ist feucht vom hochspritzenden Wasser, dass so kalt ist, dass meine Füße taub werden. Du stürzt und fällst, immer wieder, stürzt und reißt dir an den Kieseln die Handflächen auf, unten am Gelenk, und die Schienbeine, als du ohne Anzuhalten auf Händen und Knien weiter rutschst, durch das Wasser stolpernd auf die Füße kommst ist Blut an deinem Kleid, das jetzt vorne ganz nass ist, es läuft an deinen Armen entlang, als hättest du dir die Pulsadern aufgeschnitten, von hinten sehe ich deine Kniekehlen.
Dein Gesicht ist verzerrt und wüst, dein Mund steht offen, als du keuchend Atem holst.
Ich versuche mein Gesicht auf diese Weise zu verziehen, aber es bleibt starr, ich kann es nicht bewegen, es ist taub wie meine Beine und ich spüre nicht, wie ich mit den Fingern meinen Mund auseinanderziehe.
 
 
 
Der Junge ist eingeschlafen mit dem Kopf in deinem Schoss, deine Finger teilen sein Haar, ziehen Linien über seine Kopfhaut, das Haar ist wie das Fell eines kleinen Tieres oder die feinen Fäden verblühten Löwenzahns wenn man die Hand vorsichtig darum schließt, nicht wie Menschenhaar.
Du starrst and die Decke der Bootskabine, der Schweiß ist auf deiner Haut getrocknet und wenn sein Atem gegen deine nackten Beine trifft, stellen sich die kleinen Härchen auf den deinen Armen und im Nacken auf. Eine Fliege läuft über deinen Fuß und deine Wade, aber du bewegst dich nicht, du sitzt, bis es ganz dunkel in der Kabine geworden ist.
Wenn er fortgegangen ist, nimmst du den Brief aus dem Kästchen, dass du unter einem losen Bodenbrett aufbewahrst, einer der Soldaten hat ihn vergessen, in dem Umschlag ist ein Photo, eine junge Frau steht bis zu den Knien im Gras vor einem hohen Gestrüpp, in einem dunklen Rock und gemusterter Bluse, es scheint ein sonnenloser Tag zu sein.
Der Brief ist in einer Sprache geschrieben, die du nicht kennst.
Du liest ihn laut, die fremden Worte klingen geheimnisvoll und tröstlich…du sprichst sie wie ein Gebet oder eine Zauberformel und lässt dich vom unbekannten Klang deiner eigenen Stimme gefangen nehmen.
Flüsternd wiederholst du die letzten Worte, den letzten Satz, die Beschwörung von Knochen und Fleisch, alle Knochen, alles Fleisch, ihre Haut, ihre Zähne, ihr Haar, der Druck ihrer Körper auf deinem Körper, ihrer Zähne gegen deine Zähne.
Die Licht- und Narbenspuren auf seinem Gesicht, während er schlägt, während er lächelt.
 
Ich weiß, dass es die Frauen sind, ich erkenne ihren Geruch durch das Geräusch von Stöcken, die über das hohe Gras und die Rhabarberblätter gezogen werden, mit kurzen scharfen Bewegungen wie beim Mähen mit einer Sense, ein sirrendes zischendes Geräusch mit flachen Schlägen dazwischen, sie sind wie ein Insektenschwarm.
 
Plötzlich sind die Hände in deinem Gesicht, in deinem Haar, sie reiben Sand in dein Haar, in deine Augen, stopfen Sand in deinen Mund und reiben die Wangenhaut gegen die Zähne bis Blut kommt. Dein Kleid hängt in Fetzen über den zerbissenen Brustwarzen, der wundgeriebenen Haut, du blutest aus vielen kleinen Wunden und aus deiner Nase läuft Blut und Schleim.
 
 
 
Er kann sich nicht abwenden, sein Körper hält ihn fest und in seinem Magen sammelt sich ein Schwindelgefühl, es steigt höher und läuft wie eine kühle Flüssigkeit in seine Arme und er greift nach den Büschen neben sich, seine Beine sind wie Glas.
Er hält die Augen geschlossen, aber auf seinem Gesicht sieht man die Angst als wäre sie unter der Haut und würde sich dort zappelnd bewegen, Unsicherheit, was ihn erwarten könnte, das Bemühen, der Wunsch, es irgendwie zu überstehen, egal was und wie es sein wird und der Wunsch fühlt sich fremd an in mir. Ein Ringen um Konzentration und Kontrolle, als würde er von den Geräuschen und LichtSchattenLicht überflutet, als würde er fallen und alles geht so schnell, sein Mund sucht Halt und flieht zugleich, er weiß, es wird nicht ewig dauern, er kann es aushalten, er kann es überstehen, er muss nur ruhig bleiben. Er atmet schnell und starrt ins Leere, er weiß für einen Augenblick nicht, wie seine Gesichtsmuskeln funktionieren, welchen Ausdruck er benutzen soll, er ist wie ein Kind, er fühlt sich überfordert, ueberreizt.es ist so anstrengend und dann ist es vorbei und er ist erleichtert.
Dann bemerkt er, dass ich hinter ihm stehe und er dreht sich um. Ich bin dankbar, als er mich nicht berührt.
 
 
 
Ich stehe im Schlafzimmer meiner Eltern, ich will die Betten neu beziehen, die schmutzigen Laken und Bezüge liegen schon auf einem Haufen neben der Tür, die Frischen halte ich an die Brust gedrückt, die Matratzen riechen modrig und nach Crème, die sich auf der Haut zersetzt hat, über dem Kopfende des Bettes an der Wand hängt der gekreuzigte Christus.
Unten vor dem Buero stehen die Männer in einer Reihe und warten auf ihre Lohntüten, ich kann sie durch das offene Fenster hören. Mein Mund ist seltsam gefühllos und ich drücke ihn mit den Fingern zusammen, die noch gefalteten Laken fallen auseinander und zu Boden, ich kann sie nicht festhalten, ich mache ein paar Schritte rückwärts zum geöffneten Schrank hinter mir, ich drehe mich um und presse mein Gesicht in die Kleider meiner Mutter.
 
 
Der Ort ist reglos, es ist Zeit für das Abendessen oder kurz danach, ich habe eine Strickjacke angezogen, die Wolle kratzt auf meinen sonnenverbrannten Schultern. Die Straße ist noch nicht gepflastert und ich höre den Sand unter meinen Füßen, ein leises Knirschen, die Häuser sind klein und mit hölzernen Fassaden, mit niedrigen Türen und Fenstern, die Wintertüren sind ausgehängt, vor einigen stehen Blumenkübel aus Blech, um sie herum buntbemalte Steine, dann kreischt irgendwo eine Säge, Hammerschlagen, als würde es von den Wänden eines leeren Raumes zurückgeworfen, ich habe das Haus hinter mir gelassen, als er aus der Tür tritt und meinen Namen ruft, vielleicht werde ich nicht stehenbleiben, aber wahrscheinlich doch.

 
 
 
 
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